Entfremdung

In jeder Beziehung treten hin und wieder Konflikte auf, sie sind ein unausweichlicher Bestandteil menschlicher Verbindungen. Gerade in einer Ehe, die sich von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen durch intensive Nähe unterschiedet, ist die Konfliktanfälligkeit besonders stark.

Konflikte haben eine durchaus sinnvolle Funktion für eine Ehe. Menschen, die intensive Gefühle füreinander haben, werden zwangsläufig bei der Konfliktverarbeitunge gelegentlich anfangen zu streiten. Ein "gesundes" Ehepaar wird auch durch heftige Auseinandersetzungen keinen Schaden erleiden, eher wird es seine Kommunikationsfähigkeit verbessern und nach Beendigung des Streites stärkere Zuneigung füreinander empfinden. Denn die aufgestauten Feindseligkeiten sind im "Krach" abgebaut worden.

Aber auch eine vorübergehende streitbedingte Entfremdung (zum Beispiel durch gegensätzliche Standpunkte hervorgerufen) hat ihr Gutes: Sie macht eine anschließende Versöhnung attraktiver und kann das partnerschaftliche Vertrauensverhältnis verstärken.

Wer behauptet, daß er sich über mehrere Ehejahre hin noch nie gestritten hat, leidet unter totaler Gleichgültigkeit oder unterdrückt auf krankhafte Weise alle starken Gefühle - aus Angst vor Auseinandersetzungen, von denen er zum Beispiel Liebesverlust oder Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls befürchtet.

Schwaches Selbstbewußtsein, geringe Selbsteinschätzung und Schuldgefühle (s. Schuldgefühle) aber fördern gerade die Tendenz zur Entfremdung. Wer kein ausgeprägtes Selbstwertgfefühl besitzt, ist sich seiner Identität nicht sicher.

Identitätsunsicherheit ist oft mit einem emotionalen Rückzug verbunden und kann zur Isolation vom eigenen Ich und den Mitmenschen führen.

Gerade sehr junge Ehen haben es anfänglich nicht leicht, da sich die Partner oft noch auf der Suche nach der eigenen Identität befinden. Die eheliche Identität setzt aber ein Identitätsbewußtsein beider Partner voraus.

Neben der vorübergehenden Entfremdung bei Auseinandersetzungen und der bewußt herbeigeführten Distanz (s. Distanz), kennt man auch eine sexuelle Entfremdung bei Paarbeziehungen.

Ein Beispiel:
Anna, Anfang 30, ist seit sieben Jahren verheiratet. Ihr Mann ist ein gut bezahlter Chemiker. Gemeinsam sucht das Ehepaar eine Eheberatungsstelle auf. Beide denken an Scheidung. Als wichtiges Problem geben sie eine totale sexuelle Inaktivität an. Die Frau fühlt sich gegenüber ihrem Mann sexuell entfremdet. Körperlich kann sie für ihn nichts mehr empfinden, obwohl sie glaubt, daß er nicht impotent ist.

In ihren ersten zwei Ehejahren führten sie ein duchaus normales Sexualleben, meint Anna. Ihr Mann wurde dann aber beruflich immer mehr in Anspruch genommen. Seine Karriere ließ ihm kaum noch Zeit für seine Familie. Hinzu kamen ein Hausbau und zwei Kinder. Beide Ehepartner fühlen sich schon seit Jahren überlastet. Anna muß sich um das Haus, die Kinder und zusätzlich auch noch um ihre Schwiegereltern kümmern.

Mit der Zeit merken sie, daß ihre persönlichen Beziehungen einen rein "geschäftlichen Charakter" annahmen. Sie waren sich fremd geworden. Jeder versuchte für sich, seine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen. Für emotionale Bindungen blieb einfach keine Zeit.

Beide Partner spüren eine deutliche Abnahme der Gefühle, die sie ehemals verbunden hatten: Zuneigung, Wertschätzung, Zärtlichkeit und Begehrtsein. Ihnen wird plötzlich klar, daß sie zwar nebeneinander leben, aber gefühlsmäßig kaum noch Kontakt haben. Das sexuelle Verlangen ist vollkommen eingeschlafen, Interesse an außerehelichen Beziehungen besteht aber auch nicht. Ihre Kommunikation ist stark gestört.

Nach sieben Ehejahren wird ihnen bewußt, daß sie sich vollkommen entfremdet haben.

Diese Erkenntnis taucht zu einem Zeitpunkt auf, an dem beide Partner beruflich und finanziell ihre angestrebten Ziele weitgehend erreicht haben. Anna spricht wörtlich von einem Aufwachen neben einem fremden Mann.

Anna und ihr Mann haben es versäumt, in einem sehr wichtigen Lebensabschnitt ihrer Persönlichkeitsentwicklung eine Chance zu geben. Alle ihre Energie war auf äußere Ziele gerichtet. Ihre Identitätsunsicherheit blieb unverändert wie zum Zeitpunkt vor ihrer Eheschließung.

Zu dem Zeitpunkt, wo sie endlich einmal Gelegenheit hatten, sich um ihre Verbindung ernsthaft zu kümmern, weil andere Aufgaben (Ablenkungen) wegfielen, war es schon viel zu spät, um noch etwas zu retten. Das wurde den beiden nach drei therapeutischen Gesprächen klar. Sie reichen die Scheidung ein.

Entfremdung kann durchaus bekämpft werden - ob mit oder ohne Therapie -, wenn man wirklich sensibel für die ersten Anzeichen einer beginnenden Störung der Beziehung ist und dann auch genügend Motivation besitzt, etwas dagegen zu unternehmen.


(von Manfred Saniter)

 

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